„Pirat“ ist eine Geisteshaltung

Pirate Party Flags at a demonstration

Von Filesharing-Befürwortern und anonymen Hacktivisten bis hin zu den Schaltzentralen der Macht: Das globale Netzwerk der Piratenparteien ist ein Vorreiter bei der Anwendung digitaler Technologien für Demokratie und die Förderung der Menschenrechte.

Von Austin Mackell, erschienen am 16. August 2023 auf democracy-technologies, übersetzt von DeepL, korrigiert von Roland Schneider.

Bailey Lamon hatte es sich gerade gemütlich gemacht, um mit ihrem Freund einen Film zu sehen, als sie durch ein Klopfen an der Tür gestört wurden. Als Bailey öffnete, sah sie sich zehn Polizeibeamten gegenüber, von denen einer eine Waffe gezogen hatte. Die Polizisten nahmen sie und ihren Freund fest, wobei sie nur die unscheinbaren Vorwürfe „Mischief“ und „Conspiracy“ anführten (zu Deutsch also etwa böswilliges Verhalten und Verschwörung, Anm.).

Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass es sich bei dem „Mischief“ in Wirklichkeit um Vandalismus handelte. Bailey und ihre Mitbewohnerin, Mitglieder eines Medienkollektivs, das aus der Occupy-Bewegung hervorgegangen war, hatten einen Ziegelstein mit schwarzer Farbe und roter Schrift bemalt, auf dem stand: „Ich bin kein weiterer Ziegelstein der Wand“ (Anspielung auf Pink Floyd „The Wall“ Anm.).

Der Richter reduzierte ihre Freilassungsbedingungen auf, in Baileys Worten, „keine Marker, keine Sprühfarbe“. Am Ende wurden sie weder verurteilt, noch bekamen sie eine Eintragung ins Strafregister – stattdessen leisteten sie gerichtlich angeordnete „Wiedergutmachung“, d. h. sie halfen an demselben Food-not-Bombs-Tisch aus, an dem sie zuvor freiwillig gearbeitet hatten.

Vom Aktivismus zur digitalen Demokratie

Auch wenn die Konsequenzen nicht so schwerwiegend waren, hinterließ die rachsüchtige Art der Razzia und Verhaftung einen starken Eindruck bei Bailey. Aus den dem Gericht vorgelegten Dokumenten ging hervor, dass die Polizei die Online-Aktivitäten von ihr und ihren Mitbewohnern überwacht hatte – darunter auch den Beitrag mit dem Ziegelstein. Sie war auch besorgt darüber, dass die Polizei in der Lage war, die persönlichen Geräte zu durchsuchen, die bei der Razzia in ihrer Wohnung sichergestellt wurden.

Dies bestärkte sie in ihrer politischen Entschlossenheit und trieb sie zu Online-Aktivismus und schließlich zu digitaler Demokratie.

Sie begann verschlüsselte Dienste wie Signal und PGP zu nutzen. Sie verschlüsselte ihre Geräte. Sie informierte sich darüber, wie Polizeikräfte Technologie zur Überwachung politischer Aktivisten einsetzen. All dies führte dazu, dass sie die Piratenpartei, die ihr zuvor schon bekannt war, als Teil des allgemeinen revolutionären Milieus „neu entdeckte“. Sie hatte die Piraten bei Kampagnen zur Unterstützung von Whistleblowern wie Chelsea Manning und Julian Assange kennengelernt. „Wikileaks war groß“, erinnert sie sich, „Anonymous waren aktiv.“

Das alles war zwischen 2011 und 2013, in Baileys Heimatstadt London, Ontario, etwa zwei Autostunden von Toronto entfernt.

Die Partei, der sie beitrat, war eine Art „Frankenstein“ – eine chaotische Allianz aus anti-kapitalistischen Anarchisten (wie sie) und libertären Unternehmern, wie dem schwedischen Gründer der Partei, Rick Falkvinge. „Ich erlebe immer wieder, wie diese Leute zusammenkommen und sich einig sind“, sagt Bailey, „in der Unterstützung von Whistleblowern, der Bekämpfung von Überwachung, der Reform des Urheberrechts“ und „gemeinsamen Werten rund um Menschenrechte, digitale Rechte und soziale Gerechtigkeit.“

„Piraten sind eine Geisteshaltung“, fügt sie hinzu.

Digitale Werkzeuge in der parteiinternen Zusammenarbeit

Nicht nur die Geisteshaltung, sondern auch die von dieser neuen Partei verwendeten Werkzeuge, waren neu und anders – die Digital Natives, aus denen sich die Mitglieder zusammensetzten, bevorzugten ganz natürlich einen Online-Ansatz. Es gibt keine umfassende Liste all der verschiedenen Instrumente, die von den verschiedenen Nationalstaaten verwendet wurden, da Experimentierfreude und Innovation keine Grenzen gesetzt waren. „Liquid Democracy“, sagt sie und meint damit die freie Delegation von politischer Autorität, „war eine Zeit lang eine große Sache“.

Zu der Zeit, als sie der Partei beitrat, verwendeten die kanadischen Piraten „Loomio“, eine quelloffene, verteilte Entscheidungs- und Abstimmungsplattform, deren Ursprünge auf Occupy New Zealand zurückgehen, als ihr wichtigstes Verwaltungssystem. Diese war und ist bei vielen der nationalen Piratenparteien auf der ganzen Welt beliebt. Das Gleiche gilt für die Verwendung von Wikis als Mittel zur Entwicklung und Erfassung politischer Ideen.

In den nächsten zehn Jahren engagierte sich Bailey immer stärker in der kanadischen Piratenpartei, zunächst als einfaches Mitglied, dann, nach einer Zeit zunehmender aktiver Beteiligung, als Parteivorsitzende, was in Kanada, wie sie betont, eine nach innen gerichtete Managementfunktion ist, nicht die eines klassischen Parteivorsitzenden. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau ist der Vorsitzende der Liberalen Partei, aber der viel weniger bekannte Sachit Mehra ist ihr Präsident.

Letztendlich würden die kanadischen Piraten damit zu kämpfen haben, weiter registriert zu bleiben. Ein Teil des Problems, so Bailey, bestand darin, die Online-Mitglieder dazu zu bringen, Papierformulare auszudrucken, zu unterschreiben und zurückzuschicken.

Zu diesem Zeitpunkt engagierte sich Bailey jedoch auch schon in der Pirate Parties International (PPI). PPI ist eine 2010 in Belgien gegründete Dachorganisation mit 28 aktiven Mitgliedsparteien auf der ganzen Welt und einer ähnlichen Anzahl von Beobachterparteien. Bailey war von 2016 bis 2019 stellvertretende Vorsitzende der PPI, dann von 2019 bis 2023 Vorsitzende, bevor sie nachfolgend Anfang dieses Jahres die Rolle des Schatzmeisters übernahm.

Piraten und Pioniere auf dem Weg in die Welt

Im Laufe der Jahre gelang es den Piratenparteien, Kandidaten ins Europaparlament zu entsenden (von denen eine die Partei verließ, weil der Dienst des europäischen Parlaments ihrer Meinung nach nicht angemessen auf die Vorwürfe sexueller Belästigung durch einen ihrer Kollegen reagierte) und in mehrere nationale Parlamente einzuziehen, in Island sogar eine Regierung zu bilden und in Tschechien gemeinsam in einer Koalitionsregierung mitzuregieren. Die Piratenpartei hat zwei Sitze in der luxemburgischen Abgeordnetenkammer und wird diese laut Umfragen auch bei den in diesem Jahr stattfindenden Wahlen behalten.
Eine Karte der Aktivitäten der Piratenpartei. Dunkelorange (Vertretung im EU-Parlament) Gelb (auf nationaler Ebene gewählt) Lila (auf lokaler Ebene gewählt) Dunkelblau (für Wahlen registriert) Hellblau (in einigen Verwaltungsregionen registriert) Türkis (nicht registriert, aber aktiv) Grau (Status unbekannt)

(Bild: Wikipedia)

Mit dem Wachstum der Partei hat auch die Anzahl und Vielfalt der verwendeten digitalen Werkzeuge zugenommen. Diese können so einfach sein wie Etherpad – eine Open-Source-Alternative zu Google Docs, die der internationale Vorstand der Piratenpartei für asynchrone Abstimmungen nutzt, was angesichts der globalen Verbreitung der Partei wichtig ist. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich maßgeschneiderte Eigenbau-Tools. Bailey erklärt:

„Es ist auch erwähnenswert, dass die Piraten selbst ihre eigenen Tools entwickelt haben, die in ihren Parteien und in der PPI verwendet wurden. Zum Beispiel hat ein französischer Pirat ein Tool namens „Congressus“ entwickelt, mit dem wir nicht nur abstimmen, sondern auch Protokoll führen können. “

Eine immer wiederkehrende Debatte innerhalb der Partei war die Verwendung von proprietärer versus Open-Source-Software. Ein wichtiger Streitpunkt war anfangs die Verwendung von Zoom.

„Eine der Herausforderungen, die wir bei PPI vor ein paar Jahren hatten, war die Frage, wo wir unsere Sitzungen abhalten sollten. Damals war „Zoom“ das einzige Videochat-Tool, das eine Sitzung mit so vielen Teilnehmern überhaupt durchhalten konnte. Einigen Leuten gefiel das verständlicherweise nicht, während andere einsahen, warum wir es nutzten. Wir standen vor der Wahl, entweder funktionale Meetings abzuhalten oder etwas „piratenfreundlicheres“ zu verwenden. Wir haben uns für Funktionalität entschieden, bis es möglich war, zu etwas zu wechseln, das sowohl funktional wie auch unseren Werten entspricht, nämlich „BigBlueButton“. Zum Glück verbessern sich die Open-Source-Tools enorm zügig.“

Ähnliche Parteien mit unterschiedlichen Erfahrungen

Während viele der Herausforderungen die gleichen sind, unterscheiden sich die Erfahrungen der Piratenparteien auf der ganzen Welt.

Im Jahr 2021 hob das australische Parlament die Mindestmitgliederzahl für eine Registrierung von 500 auf 1500 an. Dies brachte die australische Piratenpartei in eine schwierige Lage und führte schließlich zu ihrem Zusammenschluss mit den Parteien „Science“, „Secular“ und „Climate Emergency“, die alle ähnliche Probleme mit der neuen Schwelle hatten. Die australischen Piraten machten als „Zweig“ innerhalb der neuen „Fusionspartei“ weiter – sie nutzen weiterhin die digitale Technologie innerhalb ihres Parteizweigs und fördern deren Einsatz in der ganzen Partei. Wie Miles Whiticker, ein Mitglied der australischen Piratenpartei, der nun auch eine Schlüsselfigur in der neu gegründeten Fusion Party ist, es ausdrückt:

„Derzeit nutzen wir eine Kombination aus Oyster, Opavote (Online-Open-Source-Abstimmung), Pirate MemberDB (interne Software für die Mitgliederverwaltung), WordPress (Website), Trello (Aufgabentracker), Discord/IRC/Matrix, Zoom/Jitsi, Google Docs, Google Drive, Nationbuilder (Mitgliederverwaltung, Website und Öffentlichkeitsarbeit) und Zapier (Automatisierung sozialer Medien).“

Zusammen mit einigen anderen Piraten war Miles auch an der Einführung unabhängiger Ratsmitglieder in der Gemeinde Yarra in eine Vielzahl von Demokratietechnologien beteiligt. Bisher ging es dabei vor allem um die Verwendung von Google Docs, um die gemeinschaftliche und dezentrale Erstellung von Entwürfen für soziale Medien und Kommunikation zu ermöglichen, sowie um die Nutzung sozialer Medien zur Organisation und Weitergabe der Ergebnisse von „großen (30-40) Personen umfassenden Straßenversammlungen“, mit dem längerfristigen Ziel, Strawpoll und Opavote zur „Unterstützung der Entscheidungsfindung in der Gemeinde“ einzusetzen.

Einst war die Piratenpartei die Pionierin an den wilden Grenzen der digitalen Demokratie, doch scheint sie sich im Laufe der Jahre etwas zurückgezogen zu haben und widersteht dabei aber den Bemühungen, ihre Botschaft zu verwässern und so ihre Anziehungskraft zu erweitern.

Die Strategie scheint darin zu bestehen, an ihrer Vision festzuhalten und darauf zu warten, dass die Welt sie einholt.

Die Zeit wird es zeigen.

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